Ins Donezbecken
Eines Tages - ich glaube, es war November 1947 - hieß es, es geht ein Kommando in den Kaukasus. Dort wäre es besser und auch wärmer. Ich dachte mir, es ist egal wo es hin, geht nur weg von hier und meldete mich zu diesem Transport.
Am Bahnhof von Riga trafen aus anderen Lagern Mitgefangene ein, ein ganzer Güterzug wurde zusammen gestellt, in dem Pritschen eingebaut waren, so daß eine Lage Menschen oben lag und eine unten am Boden.
Der Transport fuhr ungefähr Mitte Dezember los. Die Fahrt ging über Minsk, Kiew, Rostow am Schwarzen Meer bis ins Donezbecken. Auf dieser "Reise" war unter uns eine Stimmung, als wenn es nach Hause ginge, jeder in der Hoffnung, etwas Besseres vorzufinden.
Die Stimmung hielt bis Rostow an, als wir dann in nordöstlicher Richtung fuhren und uns Kohlenzüge begegneten, wurde schon vermutet, ob es nicht womöglich ins Bergwerk ginge. Die Stimmung schlug total um und die Vermutung sollte Recht bekommen.
Nach 14tägiger Fahrt waren wir am Ziel und der Ort hieß Kadejewka und liegt im Donezbecken, wo es viele Kohlebergwerke gibt. Wir wurden in Steinbauten untergebracht . Hier gab es keine Pritschen, sondern Stockbetten, was wir als Fortschritt ansahen.
Doch das Ungeziefer begleitete uns auch hier weiter, besonders Wanzen setzten mir persönlich am meisten zu, da hätte man die ganze Häuser ausräuchern müssen.
Gegen Läuse tat man etwas, alle 4 Wochen wurden wir entlaust, aber auf Grund der allgemeinen hygienischen Verhältnisse wurden wir sie nicht endgültig los. Das Essen war auch hier nicht besser.
Am 3. Januar 1948 fuhren wir in die Kohlengrube "Jlitsch" auf 700 Meter Tiefe ein. Unsere Arbeit bestand darin, Kohleloren auf einer bestimmten Strecke zuschieben.
Da die Gleis- und Streckenverhältnisse in einem sehr schlechten Zustand waren, ging alles sehr mühsam. Plötzlich brachte ich meine Lore nicht mehr weiter, doch da hörte ich aus einer gewissen Entfernung kommend Frauenstimmen und Lieder singen auf deutsch. Ich ließ meinen Waggon stehen, nahm meine Grubenlampe und ging in Richtung der Stimmen.
Nach 5 Minuten kam ich an eine Stelle, die wie ein viereckiger Wohnraum aussah.
Dort standen etwa 8 - 10 junge Frauen im Alter zwischen 18 und 23 Jahren und sie sangen ein Lied mit dem Anfangstext : Wer die Heimat liebt so wie du und ich, kann im fremden Land nicht glücklich sein.
Das war für mich so ergreifend, nach drei Jahren deutsche Mädchen und Stimmen zu hören, daß mir die Tränen nur so liefen. Als sie mit dem Singen aufhörten und mich entdeckten, kamen wir ins Gespräch und es stellte sich heraus, daß alle aus Siebenbürgen und dem Banat in Rumänien stammten, und nach dem Einmarsch der Roten Armee hier verschleppt waren, und seit drei Jahren die schwere Arbeit im Bergwerk machen mußten.
Ab dem nächsten Tag brauchten diese jungen Frauen nicht mehr in den Schacht einfahren, sie arbeiteten nun Übertage und waren beschäftigt wie zu Beispiel Holz sägen zum Abstützen der abgebauten Kohlenflöße.
Wir haben sie praktisch im Bergwerk abgelöst. Diese Begegnung und alles was ich durch die Rumäniendeutschen erfuhr, war für mich so erschütternd, daß mir das ganze Ausmaß dieses schrecklichen Krieges bewußt wurde. Als ehemaliger Soldat konnte man, was mit Soldaten gemacht wurde, verstehen. Aber was man mit den Zivilisten alles machte, war einfach brutal und unmenschlich.
Im Schacht war es so, daß die Deutschen für sich auf einer Sole arbeiteten, und die Russen auch für sich. Obwohl wir weniger zu Essen bekamen als die Russen, förderten wir um die Hälfte mehr Kohle.
Auch hier war die russische Aufsicht sehr schlau, für die Steigerposten wurden Deutsche eingesetzt, das waren Leute aus Oberschlesien und sie sprachen meist russisch. Sie bekamen einen Freischein (Propusk), damit konnten sie sich zwischen dem Lager und Schacht frei bewegen und bekamen noch dazu Geld.
Diese Privilegien führten dazu, daß sie uns antrieben, um die Arbeitsnorm zu erfüllen oder noch besser überzuerfüllen. Jeder dieser deutschen Steiger bekam dadurch mehr Geld und Anerkennung von den Russen. Für unsere Arbeitsleistung mußte die Bergwerksleitung auch Geld an das Lager bezahlen, aber es hieß das reiche gerade für "Unterkunft" und "Verpflegung".
Nach ein paar Wochen wechselten wir das Bergwerk. Wir kamen in die Schachtanlage "Maximowka", sie war kleiner und nicht so tief.
Allerdings konnten wir mit dem Förderkorb nur ca. 60 - 70 Meter runter fahren und von da aus ging es zu Fuß schräg nach unten bis auf ca. 300 Meter.
Man war eigentlich schon müde von dem langen Fußmarsch. Wir mußten vom Lager bis zur Sole hin und zurück zwei Stunden laufen und vor Ort mußten wir 8 Stunden arbeiten. Hier in diesem Lager gab es eine neue Art der Bewachung.
Unser Kommando war ungefähr 70 - 80 Mann stark, dafür gab es einen russischen Posten und 6 - 7 Deutsche, sogenannte WK-Leute, sie trugen eine weiße Armbinde mit den Buchstaben WK (Wachkommando). Diese Leute waren bei der "Antifa" also "politisch umgedreht", und somit bewachten wir uns fast selbst.
Die Sole, auf der unsere Brigade arbeitete, war ca. 600 Meter lang geworden, d.h. der Streckenabschnitt, auf dem die Loren mit der Kohle geschoben werden mußten.
Der Abbau der Kohle ging links von dem Streckenvortrieb aus. Die Kohleschicht betrug etwa 60 - 70 cm hoch, sie wurde von einer Schremmaschine angerissen, gesprengt und dann mit Schaufeln in die daneben laufende Schüttelrutsche geschaufelt.
Die Arbeiten mußten teilweise auf Knien oder im Liegen gemacht werden. Am Ende der Schicht wurde die Schüttelrutsche wieder zum Kohlenflöz umgesetzt. Ich war zum Waggonschieben eingesetzt. Diese 600 Meter hin und her zuschieben war deshalb so kräfteraubend weil alles so marode war. Das fing mit triefendem Wasser von oben an, gebrochene Abstützbalken, bis hin zu den schlechten Gleisen.
Schon in den ersten Tagen war mir klar, wenn du hier bleiben mußt, ist es das Ende.
Also mußte ich mir wieder etwas einfallen lassen, um zu überleben. Mir kam die Idee mit der Epilepsie.
Ich versuchte es bei der Nachtschicht, wenn wir vom Lagertor abgeholt wurden. Als wir ungefähr 500 Meter gegangen waren, ließ ich mich einfach fallen und markierte gewisse Schüttelbewegungen, der Posten hielt die Gruppe an und befahl zwei meiner Kameraden, mich zum Lager zurückzubringen; somit war mir schon eine Schicht erspart geblieben.
Dieses Schauspiel praktizierte ich erfolgreich an unterschiedlichen Stellen des Weges.
Mit 6 Leuten fuhren wir im Förderkorb nach unten, bei dem weiteren Fußmarsch hielt ich mich als letzter der Gruppe, um mich dann langsam zurückfallen zulassen und wartete dann, bis die 5 Mann außer Sichtweite waren.
Nach einer gewissen Zeit kam mir die abgelöste Schicht entgegen. Bevor sie bei mir waren, legte ich mich quer über die Schienen, und als die Männer sahen, daß da einer liegt, packten sie mich unter die Arme und nahmen mich mit nach oben.
Der Posten unseres Kommandos wurde informiert, und ab ging es mit der abgelösten Schicht ins Lager zurück. Dieses Theater spielte ich ungefähr 14 Tage.
Mein Steiger namens Max Sommer ließ mich beim russischen Arzt vorführen. Der untersuchte mich und sagte dann prompt, ich wäre ein Simulant, was ja auch stimmte.
Bei dieser Untersuchung war auch Max Sommer dabei.
Am nächsten Tag im Schacht wollte er mir wahrscheinlich eins auswischen, er kommandierte mich zu den Russen ab, mit der Begründung, die würden mir schon das Arbeiten beibringen.
Also kam ich zu den Russen, sie gaben mir zwei große Schlüssel in die Hand und ich solle dafür Sorgen, daß die Schüttelrutsche ruhig läuft.
Die Rutsche ist ca. 70 - 80 Meter lang und besteht aus 5 Meter langen Blechen, die mit Bolzen und Schrauben zusammengehalten werden. Wenn die Rutsche arbeitete, lösten sich auch ab und zu die Schrauben, dann schlug sie nach oben und wurde instabil. Meine Aufgabe war es nun, diese Schrauben zu kontrollieren und wenn nötig wieder fest zuziehen.
Das war für mich die Erholung. Die Russen hatten sowieso eine andere Arbeitsmoral, zumal die meisten dort arbeitsverpflichtet waren.
Ich fühlte mich dort sehr wohl und hörte mit meiner Masche auf, was auch dann Max Sommer mitbekam.
Er holte mich nach ein paar Wochen wieder zu seiner Sole zurück, ich brauchte aber nicht mehr auf die Strecke Waggon schieben, sondern mit einem Kameraden auf einer Plattform bei der die Wagen ankamen, drehen, anketten und mit einer Winde (Libjotschitza) 50 Meter schräg nach unten zu lassen zur Hauptstrecke.
Diese Winde bediente eine junge Russin mit dem Namen Nina. Als ich mich mal an der Hand verletzte, nahm sie sofort ihr Kopftuch vom Kopf, zerriß es und verband mir die Hand.
Nach ein paar Wochen steckte Sommer mir wieder eine andere Arbeit zu, so kam ich an den Streckenvortrieb.
Da sich der Kohleabbau weiter bewegte, mußte auch der Streckenvortrieb weiter gebracht werden, damit die Loren die geschüttete Kohlen aufnehmen konnten. Das Gestein wurde von den Russen gebohrt.
Mein Kamerad Michael Huber aus Brunnen bei Schrobenhausen und ich hatten das Gestein wegzuräumen und in Loren zu laden.
Eines Tages - es was Sylvester 1948 - hatte der deutsche Sprengmeister in der Sole irrtümlich seine Sprengstofftasche stehen gelassen und bei der Sprengung der Kohle flog auch die liegengebliebene Tasche mit dem restlichen Dynamit in die Luft.
Die Entfernung zu uns war etwa 30 Meter, der Knall und die Druckwelle war so stark, daß uns beiden die Trommelfelle geplatzt sind und sich über uns große Gesteinsmassen lösten.
Nur unser schnelles Reagieren und Weglaufen bewahrte uns vor noch größerem Unheil.
Als das Frühjahr nahte gingen viele sogenannten Latrinenparolen durch das Lager und es hieß, daß in absehbarer Zeit alle Kriegsgefangenen aus den Bergwerken raus kommen sollen.
Niemand nahm diese Parolen noch ernst, da ja das ganze Jahr immer Parolen im Umlauf waren.
Doch eines Tages , etwa Ende April 1949, wurde diese Parole wahr. Es hieß auf Befehl aus Moskau dürfen keine Kriegsgefangene mehr in den Bergwerken beschäftigt werden.
Den darauf folgenden Tag standen offene Lkws vor dem Lagertor, wir mußten aufsteigen und ab ging es.
Nach einer 1/2 stündlichen Fahrt kamen wir zu einem Steinbruch, unsere Gesichter wurden immer länger, und somit kamen wir vom Regen in die Traufe.
Wir bekamen alle eine drei Meter lange eiserne Stange, die an den Enden zu einem Steinbohrer angespitzt war, dazu einen 1,20 m langen Draht, der am unteren Ende zu einem Löffel ausgearbeitet war.
Die Norm war 1 Meter pro Person in das Gestein senkrecht zu "bohren", d.h. man schlug mit dem Hammer zuerst eine kleine Kerbe ins Gestein und dann mit Wasser durchstoßen und drehen, um ein Loch zu bohren. Dabei mußte zwischendurch immer wieder mit dem Drahtlöffel der Steinsand aus dem Loch geholt werden.
Bei Sonnenschein war diese Arbeit sehr schweißtreibend und zu trinken gab es auch hier nichts.
Diese Arbeiten im Steinbruch dauerten bis Anfang Juni 49. Eines Tages mußte unsere Brigade zu einem Sägewerk, schon am zweiten Tag durfte ich nicht mehr dabei sein.
Wieder blieb ich im Lager mit etlichen anderen Kameraden, wieder waren es Leute, die entweder bei der SS oder versucht hatten zu fliehen oder einer Einheit angehört hatten, die angeblich "Kriegsverbrechen" begangen haben sollten.
Auf der Antifa-Schule
Warum ich nun wieder dabei war, ist mir unerklärlich geblieben. Mir war die ganze Sache nicht ganz geheuer. Nach ein paar Tagen im Lager hörte ich von der "Antifa", daß sich Leute zur Anti-Schule melden könnten, die Schule würde 6 Monate dauern und dann ging es in die Heimat.
In meiner unsicheren Lage sah ich endlich einen Ausweg. Ich meldete mich dazu, und Ende Juni fuhren wir mit einer Gruppe von Kadejewka (Ukraine) nach Ogrie (Lettland) nicht weit von Riga auf die Antifa-Schule .
Hier sollten wir Marxismis - Leninismus und den großen "friedliebenden" Stalin studieren. Wir waren zwar auch weiter in einem Barackenlager untergebracht, aber das erste Mal in Bettgestellen, 4 Mann auf einem Zimmer und einigermaßen gutes Essen mit Butter usw..
Gelernt wurde den ganzen Tag, doch auch zwei mal in der Woche gingen kleine Arbeitskommandos außerhalb des Lagers ohne Posten. Es war jedenfalls auszuhalten.
Eines Tages hatte ich die Gelegenheit, mit einem politischen Offizier und einer kleinen Gruppe von uns am Abend nach Riga in die Oper zu fahren.
Wir fuhren mit einem Personenzug, es war für mich ein ganz komisches Gefühl unter normalen Menschen zu sein.
Es wurde "Carmen" gespielt. Der Abend wurde für uns alle zu einem Erlebnis und zugleich zurück in die Zivilisation.
Tage und Wochen vergingen, die Theorie, die wir lernten war gar nicht so schlecht, eigentlich für den Arbeiter ein idealer Zustand , doch die Praxis sah in der ganzen Sowjetunion ganz anders aus.
Eine Ein - Klassengesellschaft gab es nicht, einen bewußten neuen Menschentyp zu erziehen, der immer nur das allgemeine Wohl im Auge hat, ist nicht praktikabel.
Der Mensch denkt immer zuerst an sich, und wenn alles geplant und vorgeschrieben wird, gibt es keine persönliche Freiheit mehr. Vom sogenannten Volkseigentum hat fast jeder geklaut was das Zeug hielt.
Alles war Mangelware, in der Produktion wurde viel geschrieben aber wenig erbracht.
Somit war das System auf kurz oder lang zum Untergang verurteilt. Für mich war die Schule ein Lehrbuch und Mittel zum Zweck zugleich.
Ende der Kriegsgefangenschaft
Am 23.12.1949 war es dann endlich soweit, der Kursus war beendet.
Alle Leute dieser Schule, auch das deutsche Lehrpersonal wurde auf dem Bahnhof von Ogre in Viehwagen verladen, doch die Waggons waren großzügiger belegt und ausgestattet.
Die Fahrt ging von Riga über Wilna, Kiew nach Brest (Grenze).
Eine letzte Kontrolle von den Russen, dann ging es in polnischen Zügen (Normalspur) mit nicht mehr abgeschlossenen Türen, über Warschau nach Frankfurt / Oder. Die Stimmung war dementsprechend. In Frankfurt kamen wir ins Durchgangslager, wurden von Deutschen registriert und von Parteifunktionären empfangen, in der Hoffnung uns als Parteikader für die aufzubauende DDR zu gewinnen.
Ich dachte gar nicht daran dort zu bleiben, da ja meine Angehörigen in der Nähe von München wohnten. Ich gab ein Telegramm auf und kündigte an, daß ich bereits in Frankfurt bin und in den nächsten Tagen heim kommen würde.
Am 29.12.49 bestieg ich mit anderen Kameraden den Personenzug in Richtung Hof (Bayern), wo wir bei Nacht in Moschendorf über die deutsch - deutsche Grenze gingen. Nach 4 Jahren und 8 Monaten war ich endlich wieder in Deutschland.
Fazit: Ich habe mir geschworen nie mehr Soldat zu werden und keine Waffe mehr in die Hand zu nehmen.
Krieg gibt es immer dann, wenn die Politik versagt.
Wenn in Zukunft die Politiker einen Krieg für unvermeidlich halten, dann sollen sie selber hingehen.